72 qualitative Interviews  — Erkenntnisse, Herausforderungen und Anforderungen

Im letzten Jahr hat sich der Alltag im öffentlichen Gesundheitsdienst für Viele grundlegend verändert. Die Arbeit hat an einigen Stellen das Büro verlassen und digitale Produkte sind zum alltäglichen Werkzeug geworden. Um die damit verbundenen Herausforderungen im öffentlichen Gesundheitsdienst besser zu verstehen und um konkrete Lösungsansätze entwickeln zu können, haben wir vom DigitalService4Germany eine Recherche durchgeführt.

Von Anfang November bis Mitte Dezember 2020 haben wir mit vielen Stakeholdern aus dem ÖGD gesprochen, unter anderem: 18 Gesundheitsämter (Amtsleitungen, temporär Beschäftigte, IT-Personal etc.), 3 Landesgesundheitsämter, Städte und Landkreise, dem RKI, kommunalen Spitzenverbänden, der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen und mit dem erweiterten Verwaltungsnetzwerk für Digitalisierung. Außerdem konnten wir das Gesundheitsamt in Berlin Reinickendorf besuchen und uns einen Eindruck vor Ort verschaffen. Mithilfe eines Frageleitfadens als auch offenen Fragen konnten wir in den einstündigen Interviews die größten Herausforderungen, Bedürfnisse und Potentiale hinsichtlich der übergreifenden Kommunikation und des Wissensmanagements ableiten und einordnen.

Gesundheitsämter bzw. Landesgesundheitsämter mit denen wir im November und Dezember 2020 gesprochen haben.

3 allgemeine Erkenntnisse zur Kommunikation und Wissensmanagement in Gesundheitsämtern

1. Gesundheitsämter haben heterogene Bedürfnisse die von drei Faktoren abhängen: Belastung, Resilienz sowie personelle Ausstattung und Ressourcen

Die Belastung ergibt sich durch die Anzahl der Fälle über einen bestimmten Zeitraum. Auch bei hoher Belastung müssen Gesundheitsämter Aufgaben priorisieren und dabei kompetent und gleichzeitig sehr schnell reagieren. Bei niedriger Belastung können sich Mitarbeiter:innen auf ihre regulären Zuständigkeiten konzentrieren, ruhiger arbeiten, Prozesse überarbeiten und sich mit anderen austauschen. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, Herausforderungen zu prognostizieren, sich darauf vorzubereiten, den Herausforderungen zu widerstehen als auch bei Eintritt einer Krise diese schnellstmöglich zu erkennen, zu reagieren, zu bewältigen und im Anschluss davon zu lernen. Das verfügbare Personal, Anzahl der Räume, Technische Ausstattung und die Expertise der Mitarbeiter:innen variiert zwischen den rund 380 Gesundheitsämtern.

Es ist nicht die Aufgabe, die mir die Zeit raubt, sondern die Fülle der Aufgaben. Man sitzt mehrfach die Woche in Telkos und kommt gar nicht mehr zur Arbeit.

Zitat einer Amtsleitung

2. Gesundheitsämter sind nur bei deutlichem Mehrwert, persönlicher Unterstützung und Arbeitsentlastung bereit, ihre funktionierenden IT-Systeme und Prozesse zu überarbeiten

Im Frühling 2020 haben die Gesundheitsämter verschiedenste IT Systeme und Prozesse aufgesetzt um die vielen Fälle bearbeiten zu können. Über die letzten Monate haben viele der Gesundheitsämter auf diese aufgebaut und weiterentwickelt. Ein komplett neuer Ansatz kommt daher nur selten in Frage. Entweder, weil das Risiko eines Wechsels zu hoch bzw. nur schwer einschätzbar ist oder weil der Mehrwert nicht groß genug ist bzw. nicht klar kommuniziert wird. Gesundheitsämter brauchen also nicht nur neue Software-Angebote, sondern müssen zusätzlich die konkreten Vorteile klar kommuniziert bekommen und brauchen Unterstützung bei der Transition indem zum Beispiel Schulungsmaterial für die Mitarbeiter:innen zur Verfügung gestellt wird.

Der ältere Kollege stand kurz vor der Rente und hat sich partout quergestellt. Später meinte er, er müsste mir noch was sagen: Auch wenn er es damals nicht wollte, er könnte sich die Arbeit ohne [Software] nicht mehr vorstellen. Die Jüngeren sind etwas offener. Die sind ja mit dem Smartphone groß geworden.

Zitat von einem Mitarbeiter aus der IT

3. Gesundheitsämter tauschen sich bereits aus und sind offen mehr von anderen zu lernen sowie auch eigene Vorgehensweisen zu teilen

Mitarbeiter:innen in Gesundheitsämtern haben Interesse zu verstehen, wie andere Gesundheitsämter arbeiten und sind auch bereit, eigene Vorgehensweisen zu teilen. Bisher tauschen sich Gesundheitsämter vor allem aufgrund ihrer geographischen Lage mit ihren benachbarten Gesundheitsämtern aus, wie zum Beispiel Großstädte und kleinere angrenzende Kommunen. Der bundesweite und landesweite Austausch zwischen Gesundheitsämtern ist jedoch auf einige Telkos und Konferenzen begrenzt. Zusätzlich existieren viele kleinere persönliche Netzwerke die durch Arbeitsplatzwechsel und Weiterbildungen im ÖGD entstanden sind. Sie tauschen sich recht heterogen über Messengerdienste, Telefon und E-Mail aus. Es gibt bereits einige Initiativen die versuchen, einen ÖGD übergreifenden Austausch zu ermöglichen. Diese werden jedoch wenig genutzt oder spezialisieren sich auf ein Fachgebiet wie zum Beispiel das Forum für Mitarbeiter:innen und Mitarbeiter aus Hygiene-Fachberufen.

Wir haben aber auch selber viele Dokumente, die ich gerne teilen würde. Zum Beispiel habe ich Artikel geschrieben, bei denen wir Maßnahmen evaluiert haben.

Zitat einer Mitarbeiterin aus einem Gesundheitsamt

Eindrücke von unserem Besuch im Gesundheitsamt Berlin Reinickendorf.

Informationsflüsse zwischen dem Gesundheitsamt und anderen relevanten Akteuren

Der ÖGD besteht aus einer Vielzahl von Akteuren. Diese Grafik mit den Informationsflüssen und Relationen haben wir erstellt, um im Team ein gemeinsames Verständnis für den Status Quo zu entwickeln. Das Gesundheitsamt steht dabei in der Mitte, weil dort die Theorie in die Praxis übersetzt wird und diesem somit eine besondere Bedeutung zuteil wird. Dies ist eine lebendige Grafik und dient primär als Kommunikationsgrundlage. Es gibt natürlich viele weitere Akteure und Informationsflüsse im ÖGD. Um die Lesbarkeit und Verständlichkeit jedoch zu erhöhen, haben wir nur bestimmte Informationsflüsse visualisiert.

Gesundheitsämter sind mit einer Vielzahl von Akteuren im Austausch und sind dafür verantwortlich, die Theorie in die Praxis umzusetzen.

Grafik in Miro

Gesundheitsämter haben folgende 8 primäre Herausforderungen beschrieben

1. Empfehlungen & Verordnungen schnell, informiert und kompetent in die Praxis übersetzen und kommunizieren

Gesundheitsämter müssen ihre Prozesse und Weisungen stetig an die neuen RKI-Empfehlungen, Gesetze und Verordnungen anpassen und intern kommunizieren. Diese werden jedoch mit wenig oder gar keiner Vorbereitungszeit veröffentlicht. Da der theoretische Input an die lokalen Gegebenheiten angepasst werden muss, kommt es zu Verzögerungen und/oder Abweichungen bei der Auslegung in die Praxis. Durch den Zeitdruck bleibt nur wenig Zeit sich mit anderen Gesundheitsämtern auszutauschen oder abzustimmen.

Die laufenden Gesetzesänderungen machen uns das Leben schwer. Und dann sagt Landeskreis X, ne das verstehen wir so.

Zitat einer Amtsleitung

2. Informationsflut innerhalb des Gesundheitsamtes bändigen

Jedes Gesundheitsamt hat ein Team, dass sich darum kümmert, alle externen Informationen zu sichten und zu kategorisieren und abzulegen. Durch die Menge an Informationen ist es zudem erschwert, spezifische Informationen später wiederzufinden. Unabhängig davon wie zielgruppengerecht die Informationen bereits von zentraler Stelle aufbereitet sind, braucht das Gesundheitsamt auch eigene Kompetenzen und technische Hilfsmittel, um die Informationen auch intern zielgruppengerecht aufzubereiten. Nur so können die Entscheider:innen in kritischen Phasen die notwendigen Informationen schnell finden.

Wir haben so ein Kommunikationsteam, die versuchen das zugänglich zu machen. Nicht nur für uns, auch für unsere Bürger im Landkreis.

Zitat einer Amtsleitung

3. Ausgehende Informationen vom RKI, Länder, Bund und Wissenschaft zielgruppengerecht aufbereiten

In allen Gesundheitsämtern mit denen wir gesprochen haben, gab es mindestens eine Person, die sich darum gekümmert hat, alle externen Informationen zu sichten und zu kategorisieren. Wenn die Belastung besonders hoch war, kam es dazu, dass Amtsleitungen keine Zeit hatten die neuen RKI-Empfehlungen selbst zu lesen. Dokumente wurden erst gelesen, sobald sie relevant wurden. Fazit: Um den Mitarbeiter:innen in den Gesundheitsämtern Zeit zu sparen und sicherzustellen, dass die Informationen gelesen werden, müssen die Informationen zielgruppengerechter aufbereitet werden.

4. Mehr Koordination um kompetente, schnelle und einheitliche Umsetzung zu ermöglichen

Bei unserer Recherche sind uns Unterschiede bei der Rolle der Länder aufgefallen: von eher unterstützend bei Nachfrage bis zu stark koordinierend. Die Länder haben das Mandat und somit auch das Potential Herausforderungen sowie Erfahrungen der vielen Gesundheitsämter zusammenzuführen und zusammen anzugehen. Teilweise haben größere Gesundheitsämter eine koordinierende Rolle übernommen. Da die kleineren Gesundheitsämter weniger Personal zur Verfügung haben, würden diese besonders von einer stärkeren Koordination profitieren.

5. Erreichbarkeit der relevanten Ansprechpartner:innen gewährleisten

Da Fälle immer von der Kommune bearbeitet werden müssen, bei dem die betroffene Person gemeldet ist, müssen Gesundheitsämter Fälle untereinander weitergeben können. Für einzelne oder benachbarte Fälle ist dies kein Problem. Schwierig wird es jedoch, wenn nach einem größeren Ereignis viele Personen aus verschieden Regionen betroffen sind. Über das RKI PLZ-Tool sind die meisten der allgemeinen Kontaktinformationen auffindbar. Manchmal sind die Informationen jedoch nicht aktuell oder die spezifisch zuständige Person bzw. E-Mail-Adresse ist nicht klar.

Ich habe mittlerweile auch eine Undercovernummer. Das sind Nummern, die nur intern von uns genutzt werden.

Zitat einer Mitarbeiterin aus einem Gesundheitsamt

6. Weiterbildung und Austausch von Good-Practices ermöglichen und fördern

Bei der Recherche ist uns aufgefallen, dass viele der Aufgaben der Gesundheitsämter mehrfach erarbeitet werden, wie zum Beispiel: Vorlagen für Bescheide, Arbeitsanweisungen für die temporär Beschäftigten sowie Arbeitsabläufe. Die Gesundheitsämter können Ressourcen sparen, indem sie erarbeitete Ergebnisse miteinander teilen.

Die 12 Bezirke machen 12 Mal die gleiche Arbeit.

Zitat von einem Mitarbeiter aus der IT

7. Sicherer und einfacher Austausch von Daten (auch personenbezogen) übergreifend zwischen Behörden ermöglichen

Mitarbeiter:innen in und zwischen Gesundheitsämtern teilen verschiedenste Dokumente miteinander. Gesundheitsämter wünschen sich eine sichere, einfache und schnelle Möglichkeit personenbezogene Daten auszutauschen, um zum Beispiel Fälle an ein anderes Gesundheitsamt zu übermitteln. Bestehende sichere Verfahren sind teilweise sehr umständlich.

Hinweis: Austausch personenbezogener Daten auf Agora ist nicht erlaubt. Daten zu Kontaktpersonen und Fällen gehören zum Meldewesen und werden mit der Meldesoftware, wie z.B. DEMIS abgedeckt. Diese Herausforderung ist daher nicht Teil unseres Projektumfangs.

8. Interoperabilität zwischen Systemen sicherstellen und Standards etablieren

Die Kontaktnachverfolgung wurde als die größte Herausforderung der Gesundheitsämter beschrieben. Erschwerend kommt hinzu, dass verschiedenste Systeme nicht immer optimal miteinander kommunizieren. Dies führt dazu, dass Daten zum Teil mehrfach eingegeben bzw. importiert und exportiert werden müssen. Um ein gutes Zusammenspiel der Systeme zu ermöglichen, braucht es Standards und Software-Schnittstellen. Hinweis: Diese Herausforderung ist nicht direkt Teil unseres Projektumfangs.

Hinweis: Diese Herausforderung ist nicht Teil unseres Projektumfangs.